Marchtrenk 1900-1938. Ein kleines Dorf in schwerer Zeit
Armut in Marchtrenk
Im Besitz der Stadtgemeinde Marchtrenk befinden sich vier Bücher zu den Sitzungen des Armenrats. Das erste Buch umfasst den Zeitraum Jänner 1905 bis Jänner 1907, April bis Dezember 1915, Juli 1919 bis Oktober 1920, Februar 1922 bis April 1924 und Mai 1929.
Das zweite Buch wurde von Februar 1930 bis Februar 1932 geführt. Die Beschlüsse vom Jänner 1933 bis Dezember 1936 finden sich im dritten Buch und die von Jänner 1937 bis September 1938 im vierten Buch.
Viel interessanter wären die – sicherlich teilweise schriftlichen – Begründungen zu den Ansuchen und Bitten, doch wurden diese am Gemeindeamt nicht aufbewahrt. Dies gilt auch für die Entscheidungen der Gemeinde. Nur einige Schriftstücke sind erhalten geblieben.
Wir wollen keine Namen nennen. Es kann aber gesagt werden, dass zahlreiche Enkel und Urenkel dieser armen Leute tüchtige Unternehmer, Akademiker, Facharbeiter geworden sind.
Es ist erschütternd zu lesen, wie die Marchtrenker oft die Hilfe der Gemeinde für ein menschenwürdiges Dasein, ja direkt zum Überleben gebraucht haben. Besonders nach dem I. Weltkrieg wurde um finanzielle Unterstützung zum Kauf von Nahrungsmitteln, von Bekleidung oder Wäsche und zur Bezahlung der Miete angesucht.
In den dreißiger Jahren war durch die hohe Arbeitslosigkeit und durch das Aussteuern – diese Menschen bekamen keine Hilfe mehr vom Staat – die Not am größten.
Dies soll auch die nachstehende Statistik belegen, wobei nicht alle Jahre angeführt sind. Manchmal finden sich neben den Beschlüssen noch andere Informationen, vielfach sind nicht ganze Jahre dokumentiert. 1905 gab es 22 Punkte, 1906 waren es 11 Punkte, 1919 bereits 58, 1930 waren es 86 Ansuchen, (1933: 114, 1934: 144, 1935:194, 1936: 158). 1937 war die Not besonders groß: Es kam zu 180 Anträgen, 1938 waren es 102, wobei es ab September 1938 keine Aufzeichnungen mehr gibt.
Entscheidend war in dieser Zeit die Zugehörigkeit zu einer Gemeinde, dokumentiert durch den sogenannten „Heimatschein“ und das „Dienstbotenbuch“. Es musste daher in Einzelfällen die Gemeinde Marchtrenk auch für Bürger Sorge tragen, die in anderen Orten lebten.
Da es damals kaum Pensionen und keine Altersvorsorge gab, hatten die sogenannten „Einleger“ ein besonders tragisches Schicksal zu ertragen. Von den zu zahlenden Steuern betrug die sogenannte Naturaleinlage drei Prozent. Diese war für den Zweck bestimmt, dass alte und gebrechliche Menschen, die kein Heim hatten, zu den verschiedenen Besitzern und Steuerzahlern (zumeist Bauern) in Kost und Quartier gehen mussten. Diese unglücklichen Menschen erhielten zumeist eine „sparsame“ Kost und oft Logis im Stall neben den Tieren. Der Ortschronist schreibt: „Diese Art der Armenversorgung war auch damals schon ein Schandfleck der Kultur.“ Vom Armenrat wurde 1915 diese „Betreuung“ der alten Menschen abgeschafft. Sie kamen in der Folge nach Linz in das „Haus der Barmherzigkeit“.
1905 – 1907
Damals wurde öfters um einen „Erziehungsbeitrag“ angesucht. Es wurden auch Mietbeiträge geleistet. In einem Fall wurde eine Unterstützung mit acht Kronen abgewiesen, „da der Ansucher wegen eines Bruches nicht arbeitsunfähig erscheint“. Manche großherzigen Personen richteten eine Stiftung ein, wie die „Josefa-Hofer“-, die „Maria-Weinzirl“- und die „Kirchmayr und Stöger“- Stiftung.
1915
Es wurde unter anderem um einen Holzbeitrag ersucht sowie um die Bezahlung der Spitalskosten. Ein Ansuchen um Erhöhung der Armenunterstützung von 12 auf 30 Kronen wurde mit 14 Kronen bewilligt.
1919 – 1920
Herr Bachmair und Herr Scherney kandidierten beide für den Vorsitz des Armenrats. Das Los entschied. Bei der ersten Sitzung wurden 457 Kronen für 18 Parteien ausbezahlt. Im August 1919 organisierte Vizebürgermeister Scherney ein Konzert in der damaligen Kirchenbaracke im Lager. 1.500 Besucher spendeten 3.692 Kronen für die Ortsarmen. Es wurde auch der Bauernrat um eine Getreidespende ersucht.
Das Bezirksgericht Wels forderte die Erhöhung des Armengeldes oder die Unterbringung von vier Kindern in einer Erziehungsanstalt. Sie kamen in das Waisenhaus nach Linz. (Später forderte die Mutter ihre Kinder zurück, was aber abgelehnt wurde).
Die „Ideotenanstalt Hartheim“ (Originalschreibung) forderte für einen Insassen 70 Kronen monatlich, die Diakonissenanstalt Gallneukirchen erhöhte die Verpflegungskosten von 20 auf 50 Kronen monatlich. Für ein paar Schuhe „sind Erkundigungen einzuziehen“. 17 Parteien erhielten Abfallholz aus dem Lager. 1920 wurde um eine Prothese angesucht. Auch hier: „Der Obmann hat sich um den Gesundheitszustand zu erkundigen.“
1922 – 1924
Es wurden 20.000 und weitere 200.000 Kronen von der Jagdgesellschaft gespendet. Ein Ofen und die Beerdigungskosten wurden bewilligt. Im Juni 1922 wurden die Armenunterstützungen um durchschnittlich 100 Prozent erhöht (Inflation!). Ein Bezirksgericht wollte ein Kind in die Besserungsanstalt stecken. Dies wurde abgelehnt und das Kind bei hiesigen Bauern untergebracht, „da es in einer Besserungsanstalt nicht besser wird“. Kein Erziehungsbeitrag wurde bezahlt, „da das zwei- und das fünfjährige Kind von der 12jährigen Tochter beaufsichtigt werden können“.
1923 wurden die Verpflegungskosten im katholischen Waisenhaus mit monatlich 270.000 Kronen bestimmt. Die Unterstützungen wurden um das Dreifache erhöht. Alle Gemeindearmen und Kleinrentner erhielten zusammen als Weihnachtsspende drei Millionen Kronen, daher pro Partei 50.000 Kronen. Die Armenunterstützung wurde um 50 Prozent erhöht.
1929
Über Vorschlag des Herrn Pfarrers Schnitzer wurde Bürgermeister Asböck mit Stimmenmehrheit zum Obmann des Armenausschusses gewählt. Max Zauner (SPÖ) bezweifelte die Gültigkeit der Wahl und behauptete, dass Bürgermeister und Pfarrer im Armenrat nicht stimmberechtigt seien. Der Bürgermeister wollte Rechtsauskunft einholen. Dies dauerte, weshalb es 1929 nur eine Sitzung gab.
Und die Armen? Ein Ansuchen wurde abgelehnt, „weil neun Kinder vorhanden sind, die die Mutter mit ihren bescheidenen Ansprüchen erhalten können“.
1930 – 1932
Die Altersrentner hatten 50 Prozent ihrer Rente als Beitrag zur Verpflegung im hiesigen Waisenhaus (?) zu bezahlen. Der Rest war für eigene Bedürfnisse. Die Gemeinde legte Revision ein gegen die Unterbringung eines Marchtrenkers in einer Zwangsarbeitsanstalt in Korneuburg. Er sollte als Landwirtschaftsarbeiter tätig sein. Ein anderer Beschluss lautete: „Unterstützung abgewiesen, weil das Kind 15 Jahre alt ist und sich selbst erhalten kann.“ Zu Weihnachten gab es sechs Schilling für Arme, die nicht im Armenhaus wohnten.
Auf Grund der vielen Tuberkulosefälle wurde verstärkt um die Bezahlung der Desinfektionskosten ersucht. Der Ankauf von einem Waggon Auholz und Scheiterholz wurde bewilligt. In mehreren Fällen wurde die Ausstellung eines „Armutszeugnisses“ beantragt.
1933
Erstmals Hinweis auf die „Winterhilfsaktion“. Zahlreiche Abweisungen, „weil keine Geldmittel vorhanden“. Ansuchen um Arztkosten: „Abgewiesen, soll sich beim Doktor um ratenweise Abzahlung bewerben.“ Erstmals gibt es „alte“ Schuhe.
„Abgewiesen, weil sich die Konkubine mit den Kindern an die Heimatgemeinde wenden möge.“ „Die Gemeinde ist außerstande für außereheliche Kinder zu sorgen.“ Es werden keine Schuhe mehr, sondern nur mehr ein Schuhdoppler bezahlt, noch später nur mehr Holzschuhe.
1934
„Abgewiesen, sonst muss er in ein Arbeitsdienstlager.“ Bitte um ein Bett: „Bettstatt vom Armenhaus und ein alter Strohsack bewilligt.“ Landesregierung: „Heiratsausstattung an arme weibliche Gemeindeangehörige abzugeben, ist strengstens verboten.“ „Abgewiesen, weil ohne Grund dem Gatten davongelaufen“. „Arbeitsscheue ledige Landarbeiter können gegen Kost (ohne Bezahlung!) zu Landwirten in Arbeit gegeben werden.“
Ansuchen um ein Paar Schuhe und Unterstützung: „Nein, ansonsten sie Gefahr laufen nach Schlögen ins Arbeitslager zu kommen.“
Es fällt oft sehr schwer ohne die entsprechenden Unterlagen die rigiden Entscheidungen der damals verantwortlichen Politiker und Geistlichen (sie waren auch im Armenrat vertreten) nachzuvollziehen!
1937 – 1938
Zinsbeihilfe nein, „weil es unmöglich ist für alle Arbeitslosen Zins zu bezahlen“. Zahlung von Zahnprothesen und Brillen, abgewiesen. 1938 werden an zwei Tagen durch den NS-Bürgermeister 50 Punkte behandelt. Am 24. 9. 1938 steht: „Der Bürgermeister teilt noch verschiedene Akten, die bereits als dringend erledigt wurden, den Herren mit.“
Ende der Armutsprotokolle.
Allgemeines:
1911 wurde die Errichtung eines Choleraspitals auf isoliertem Areal angedacht.
1912 wurde – aufgrund des Geldmangels – kein eigenes Krankenhaus gebaut.
1914 wurden die Witwe D. und Herr S. werden wegen Kartoffeldiebstahls vom k.k. Bezirksgericht mit 24 Stunden Arrest bestraft und für immer aus dem Gemeindegebiet Marchtrenk ausgewiesen.
1919 kamen Kinder aus Hungergebieten (Linz) zur Erholung nach Marchtrenk. Wegen der allgemein herrschenden Lebensmittelnot erhielten Fremde, die nicht in Marchtrenk sesshaft oder beruflich tätig waren, nach drei Tagen keine Lebensmittelmarken mehr.
1920 gab es eine amerikanische Kinderhilfsaktion (= Ausspeisung für Schulkinder).
1921 tagte der Wohnungsausschuss und führte eine Wohnungsfürsorgesteuer ein, um Geld für den Bau von Unterkünften zu beschaffen.
1922: „Die Not war ungeheuer groß und besonders für alte Leute, da sie durch die Inflation ihre einzigen Ersparnisse verloren hatten.“
1923 wurden an einem Tag bei der Kreisjagd 800 Hasen geschossen. Dies war sehr hilfreich bei der Versorgung mit Fleisch.
1925 wurde ein Arbeitslosenkomitee errichtet. Die höchste Unterstützung betrug 11,50 Schilling.
1927 und 1928 erhielten die Arbeitslosen pro Familienmitglied 2,5 Kilo Weizenmehl.
1928: Ausschreibung einer Wachmannstelle. 101 Bewerbungen!
1929: Ansuchen der Kriegsopfer um Besserung ihrer kargen Lebensbedingungen bei der Landesregierung.
1930 bekamen auch Altersrentner die Weihnachtsspende. Insgesamt waren es 1.200 Kilo Mehl.
1931: Einführung der „Winterhilfsaktion“. Geldsammlungen zum Lebensmittelankauf. Unterstützungsaktion für Ausgesteuerte: Gemeinde, Land und Bund bezahlten je 1.500 Schilling. Aus der Ortschronik: „Viele Familien mussten mit 20 Schilling wöchentlich auskommen.“
1932 spendete die Firma Becker zwei Waggons Kohle. An Arbeitslose wurden 300 Kilogramm Bundeswurst zu einem Schilling pro Kilo abgegeben.
1933 erhielten zwei mehrfache Mütter je 20 Schilling als Muttertags- Spende. Einführung des freiwilligen Arbeitsdienstes. 30 Groschen (!) Lohn täglich.
„Die Armut hat im ganzen Land Platz ergriffen. Die Wirtschaft stand vor dem Zusammenbruch. Zahlreiche Betriebe waren stillgelegt, Geschäfte wurden geschlossen, ihre Arbeitskräfte entlassen, die Zahl der Arbeitslosen und Ausgesteuerten stieg in enorme Höhen.“
1935 musste die Gemeinde sparen. Für den Schularzt wurden 300 Schilling weniger ausgegeben. Die Gemeindeangestellten bezahlten um zwei Prozent höhere Pensionsbeiträge, die Gemeinde führte hingegen um zwei Prozent weniger ab. Die Einsparung betrug 155 Schilling! Es wurden Wohlfahrtsmarken zu zwei Groschen je Stück eingeführt, die beim Kaufmann einzuwechseln waren. „Die Armenausgaben bildeten mit 36.000 Schilling die Hauptlast des Kostenvoranschlags“. Die Bezüge der Beamten wurden um sechs bzw. vier Prozent gekürzt.
1936: Allgemeine Notzeit. Stillstand und Kurzarbeit bei den Firmen Becker und Walter. Wegen der großen Dürre 1935 mussten die Bauern das meiste Futter zukaufen, wodurch sie sich arg verschuldeten.
1937 erhielten 90 Familien alle zwei Wochen Lebensmittel, Holz und Kohle.
1938 übernahm die Nationalsozialistische Volksfürsorge die Schulausspeisung.
Text: Reinhard Gantner, 2018
"Marchtrenk 1900-1938. Ein kleines Dorf in schwerer Zeit" - Dokumentation einer Ausstellung des Museumsvereins Marchtrenk - Welser Heide vom 20. bis 28. Oktober 2018 im Full Haus Marchtrenk.